Kleine Prosa

Zwei Kapitel aus Finn Ritters Roman „Am Ende des Ganges“, der 2016 erscheint:

 

8

 Abgehen

Alle haben ihr Abitur geschafft. Alle. Alles strahlt. Esser am meisten, auch wenn sein Abitur schon mindestens 30 Jahre zurückliegt. Aber alles ging gut, der Elternrat, der angesichts der unwiderruflich verlorenen Klausuren ohnehin nur in sanftem Reflex gezuckt hatte, ist vollends erlahmt und hat mit dem Erwerb der Hochschulreife der Söhne und Töchter seine Arbeit eingestellt, der Schülerrat hatte dies ohnehin bereits vor Wochen getan, solange sind die Schüler nämlich eigentlich schon gar nicht mehr hier. Soweit auszumachen war, hatten sie es sowieso eher belustigt zur Kenntnis genommen, dass Thomas Ritter auch einmal etwas außerhalb der Regeln widerfuhr. „Sind doch nur Klausuren, Herr Ritter.“ Ja, Catharina, recht hast du, sind doch nur Klausuren, auch wenn Michael Herber auch dieses Mal lang und verbissen gekämpft hatte. Er schaute entgeistert, als er hörte, dass der Kampf dieses eine Mal umsonst gewesen sein sollte, aber noch war genug Kraft für weitere Versuche da und entsprechend gering war die Gegenwehr. („Nehmen Sie’s sportlich“, hatte Esser den Schülern gesagt, „und betrachten Sie’s als Übungsstrecke. Umso besser werden Sie letztlich im Abitur abschneiden.“ Sie hatten ihm geglaubt und fühlten sich bestätigt.)

Die Sonne hatte bereits früh die Herrschaft über den Tag übernommen, der Morgen war in schweres und warmes Licht getaucht, von dem jetzt um kurz nach elf nur noch eine Erinnerung übrig war, die aber wirkte nach und überstrahlte nicht nur die tatsächliche Helligkeit draußen, die an das aufdringliche Weiß einer LED-Leuchte erinnerte, sondern auch den ewigen Schatten im und neben dem Gebäude. Die Aula war bereits jetzt zur Hälfte gefüllt, in einer halben Stunde würde sie aus den Nähten platzen. Wie jedes Jahr zur Abiturientenentlassung, und wie jedes Jahr würde der Platzmangel von Esser wie eine große Überraschung kommentiert werden, man würde die Flügeltüren öffnen um Platz zu schaffen für die Großmütter und Großväter, Onkel und Tanten, Freunde, Lehrer und Bekannten, die vom Flur aus in die Aula würden hineinsehen müssen.

Als um 12 Uhr Sonja Reitz die feierliche Übergabe der Abiturzeugnisse am Flügel eröffnet, kommen noch immer dem Anlasse entsprechend gekleidete und mir völlig unbekannte Menschen die Treppe zum 3. Stock herauf. Die Hauptakteure sind aber längst da und sitzen in den ersten Aulareihen wie am Tag ihrer Einschulung, manche festlich gespannt, manche aufgeregt tuschelnd, fast alle als Erwachsene verkleidet und fast alle in unsichere Blässe getaucht. Nur Catharina Schmitt sieht müde oder gelangweilt aus, so genau kann ich das von meinem Platz vor einem der Korridorfenster nicht erkennen, aber wer sagt, dass sich dahinter nicht auch Unsicherheit verbirgt.

Sonja Reitz ist zu Ende, und ich weiß, was kommt: Esser („Abitur kommt von abire, lateinisch abgehen, und wenn Sie dies heute tun, liebe Schülerinnen und Schüler, so hoffe ich doch, dass auch unsere Schule Ihnen mitunter abgehen wird auf dem Weg, der jetzt vor Ihnen liegt und für den wir Sie hier nach Kräften mit allem Nötigen ausgestattet haben, um allen Unwägbarkeiten erfolgreich begegnen zu können.“), die Schülersprecher („Wir danken allen Lehrerinnen und Lehrern dafür, dass Sie im Gegensatz zu uns uns und die Schule immer so ernstgenommen haben, ganz besonders danken wir Frau Kreutzer für den langweiligsten Französischunterricht der Welt und den Aufsichten danken wir dafür, dass sie uns während unserer Haschischexperimente hinter dem Oberstufenhaus nie ernstlich gestört haben.“), die Elternvertreter („Ganz besonders möchten wir noch einmal im Namen der gesamten Elternschaft Ihnen, liebe Lehrerinnen und Lehrer, danken für das, was Sie in den letzten Jahren geleistet haben. Auch wenn es mitunter Unmut und Konflikte gegeben hat, so wissen und wussten wir und unsere Kinder doch stets, was wir an Ihnen haben.“), der Verein der Freunde des Gymnasiums („Und auch wenn Sie, liebe Schülerinnen und Schüler, es im Augenblick sicher kaum erwarten können, endlich die Schule hinter sich zu lassen, werden Sie sicher in nicht allzu ferner Zukunft gern zurückschauen auf Ihre Schulzeit in diesen Mauern und sich zurückerinnern. Dies ist in Gemeinschaft Gleichgesinnter umso schöner, so dass ich Sie schon jetzt herzlich einladen möchte, Mitglied unseres Vereins der Freunde des Gymnasiums zu werden, der sich auch als Netzwerk versteht.“ ), nochmal Sonja Reitz (Chopin), die Überreichung der Abiturzeugnisse nebst der Präsente für besondere Leistungen und der obligaten Rose („Ganz besonders freue ich mich, in meiner Funktion als Tutor und Fachleiter für Chemie, einen „Jugend forscht“-Sonderpreis an einen Schüler unseres Gymnasiums zu überreichen, der überdies das Abitur mit einer Gesamtnote von 1,03 [Raunen, Applaus] bestanden hat und für das Stipendium der Deutschen Studienstiftung vorgeschlagen wird), der Unterstufenchor („Hello goodbye“), der festliche Umtrunk mit Sekt und Häppchen aus der Kasse des Schulvereins („Möchte ich Sie bitten, mit mir das Glas…“), der Smalltalk, die guten Wünsche, das Wochenende und in einer Woche die Sommerferien.

Als Zeller den „Jugend forscht“-Sonderpreis an Michael Herber übergibt, entschließe ich mich zu gehen. Michael freut sich angespannt, der Kampf hat sich gelohnt, er würde ein Stipendium bekommen und alles würde gut werden. Ich weiß, das Schlimmste kommt erst noch und bahne mir so unauffällig wie möglich einen Weg durch den unbegehbaren Korridor. 10 Minuten später bin ich im Freien.

 

9

Berliner Luft oder Böhmen am Meer

Timo freut sich, als ich vor seiner Tür stehe.

„Alter Falter, mensch is dit schön, dich zu sehn, wa.“

Die Freude ist echt, ich weiß es, und wüsste ich es nicht, spätestens sein Berlinern würde es mir verraten, mühsam hat er es sich abtrainiert („sonst jeht die Schublade doch sofort uff, in der ick dann landen tu…“), nur große Freude und großer Stress sind stärker. Von Letzterem ist nichts zu spüren.

„Na, du Grottenolm.“

„Lehrer müsste man sein: Vormittags haste recht und…“

„…nachmittags frei, genau.“

„Jenau, und alle paar Wochen Ferien. Davon träum ick, Atze, sechs Wochen nüschte.“

Ich erspare uns die Korrektur, hier geht es nicht um Vernunft, hier geht es um Rituale. Und zumindest mit den sechs Wochen Sommerferien hat er ja nicht ganz unrecht. Eigentlich sogar mehr, denn die letzten Vorferientage waren alles andere als anstrengend. Einige Kollegen simulierten noch Schule, andere spielten mit völlig offenen Karten und blockierten Wochen im Voraus die Vormerkpläne für DVD- und Videogeräte. Nur die armen Klassenleiter stöhnten, zu recht, sie hatten mit den Zeugnissen und der Zeugnissoftware zu kämpfen. Lehrer müsste man sein.

„Seit wann biste da?“

„Seit gestern, ich bin quasi zusammen mit den Schülern aus der Schule gerannt, eine Stunde später saß ich im Zug und drei Stunden später bei meiner Schwester in der Küche.“

„Na, denn komma in meene, Falk müsste och bald da sein.“

Und so ist es, keine zehn Minuten später klingelt es an der Tür, Umarmung und großes Hallo, zu dritt ist alles immer noch ein bisschen lauter, als ohnehin schon. Falk stellt seine Tasche zu meiner, zwei Stunden später sind die ersten Biere getrunken und unsere gemeinsamen Tage haben begonnen. Eine Woche Prag. Auch wenn wir noch in Berlin sind.

Der nächste Morgen beginnt zu früh, wir haben ab 23 Uhr angefangen, alte WG- und Bandvideos zu schauen, und es gab eine ganze Menge zu sehen; zu trinken sowieso, Timo hatte eingekauft.

„Wer hatte eigentlich die Scheißidee, mit dem Zug nach Prag zu fahren? Mit dem Zug? Mann, mit dem Wagen hätten wir entspannt in ein paar Stunden runterrollen können!“

„Dit wär jut jewesen, wa?“

Kann sein, aber das hier ist besser, der morgendlichen Kälte zum Trotz. Komisch, sommerliche Kälte. Aber 5 Uhr 40 ist ja auch eine Herausforderung. Wir haben sie angenommen. Als wir an Zossen vorbeirollen, schlafen Falk und Timo längst wieder. Ich sitze und suche mich im Fenster.

Sagenhafte fünf Stunden später sind wir in Prag, auch wenn Timo und Falk noch nicht davon überzeugt sind.

„Was ist das denn hier, Lichtenberg?“

„Fast, Holesovice, und sicher nicht der Ort, den du im Sinn hattest. Aber hab noch ein bisschen Geduld, Karlsbrücke und Knedliky warten schon auf dich.“

Falks Begeisterung über meine Antwort hält sich in Grenzen, aber nur eine Stunde später, nachdem wir unser Gepäck im „A-Z Hostel“ deponiert haben, ist sie grenzenlos. Wir wohnen an den Boutiquen des Goldenen Kreuzes, wie die Einheimischen den Wenzelsplatz und die ihn kreuzende Fußgängerzone nennen, die Postkartenkulisse der Altstadtgässchen und der Altstätter Ring sind zum Greifen nah, ich kenne das Hostel noch aus vergangenen Tagen. Morgen werden Falk und Timo merken, dass auch die Kleinseite und alle weiteren avisierten Sehenswürdigkeiten fußläufig liegen, Prag ist gut zu seinen Gästen, heute aber steht erstmal eine Exkursion durch ausgewählte Prager Bierschwemmen auf dem Programm. Das hilft uns, gemeinsam hier anzukommen, und dem Frohsinn auf die Beine hilft es sowieso. Auch Timo strahlt. Wir sitzen im „U Medvidku“ und sehen drei Böhmischen Platten und den nächsten Budweisern entgegen.

„Und, so habt ihr euch das vorgestellt, Jungs, oder?“

Genau so. Knödelküche und Bier, Klamotten shoppen, die Nacht zum Tag machen mit der Hoffnung, dass sich die vorsorglich gemieteten drei Einzelzimmer nicht als Fehlinvestition erweisen, am Dienstag Bruce Springsteen im Letná-Stadion, Goldenes Gässchen und Glockenspiel. Und dazwischen ein bisschen Geschichte am lebenden Objekt, schließlich haben die beiden einen Zeitzeugen und Geschichtslehrer in einer Person dabei. Wer tut hier wem einen Gefallen?

Nach dem „U Medvidku“ kommt das „U Fleku“, obwohl es längst nicht mehr nötig wäre, wir haben schon jetzt genug für heute.

Am nächsten Morgen weckt mich Bruce Springsteen. Er steht in der Gemeinschaftsdusche unserer Etage, die unmittelbar an mein Zimmer grenzt, und singt „The river“. Falk hat schon geduscht und erlebt mit der ersten Gauloise für heute gerade den ersten Höhepunkt des neuen Tages. Er sitzt allein auf dem Bett, auf den Knien einen vollständig ausgeklappten Stadtplan „Prag“ mit Patentfaltung.

„Wo ist denn jetzt dieses bekackte Palais, zu dem du uns heute unbedingt schleppen willst?“

„Guten Morgen, Hase, war die Nacht für dich auch so schön wie für mich?“

„Lass die Scheiße, Ritter, zauber lieber erstmal einen Menschen aus dir. Und setz deine Brille auf, wir haben Mittag, es ist zwölf Uhr vorbei.“

Wie jedes Mal laufe ich zuerst falsch. Von der Moldau kommend, muss man an der Tramhaltestelle links hochlaufen, aber ich leite uns auf den rechten Weg, der direkt auf den Hradschin führt. Falk nimmt es gelassen, der Weg über die Karlsbrücke hat ihn versöhnt, Timo sowieso:

„Dann machen wir eben heute die Burg und das Goldene Gässchen und du zeigst uns das Palais Lubowitz später.“

„Es heißt Lobkowitz, Timo.“

„Jut, Lobkowitz, och recht. Wat sachste?“

Erst mal sag ich gar nichts und zucke mit den Schultern. Also ja, auch wenn ich weder der Burg noch dem Goldenen Gässchen viel abgewinnen kann. Ich war einfach schon zu oft hier oben, und schon damals, beim ersten Besuch, als wir auf unserer letzten Klassenfahrt 1987 versuchten, die kleinen Hütten des Gässchens und seine Geschichte zu bestaunen, fand ich das Ganze einschließlich Veitsdom enttäuschend unspektakulär. Auch bei späteren Besuchen im Studium hat sich mir, trotz Karl und Kafka, nie eine andere Perspektive erschlossen.